Luis auf Schanzen-Tournee: Finale Furioso in Planica
am 10.04.2015
Als kleine nachträgliche Oster-Überraschung serviert euch unser Kolumnist Luis Holuch heute eine XXL-Folge seiner Kolumne "Luis auf Schanzen-Tournee". In dieser erzählt er euch seine ganz persönlichen Erlebnisse während des finalen Einzels in Planica. Wir wünschen viel Spaß und Spannung beim Lesen und freuen uns auf euer Feedback!
Luis auf Schanzen-Tourneevon Skisprungschanzen-Archiv-Autor und -Fotograf Luis Holuch |
Ohne jeden Zweifel war dieses Saisonfinale das Spannendste aller Zeiten. Nie zuvor waren zwei Springer nach einer kompletten Weltcup-Saison punktgleich. Das 32. und letzte Einzelspringen in Planica war ein Finale furioso mit einem unvergleichbaren Drehbuch von unvergleichbarer Dramaturgie. „Das kann sich kein Drehbuchautor dieser Welt ausdenken“ ist eine viel bemühte, aber selten wirklich zutreffende Floskel. Doch, wer das gesehen hat, kann diesen Satz unter das Einzelfliegen am Sonntag in Planica setzen.
Doch auch hier, der Reihe nach. Es war am Samstagnachmittag nach einem für die Deutschen extrem ernüchternden Team-Wettkampf. Brian und ich rätselten woran es denn gelegen haben könnte. Denn sowohl am Donnerstag als auch am Freitag waren die Einzelergebnisse mehr als in Ordnung. Ganz Slowenien war nach dem Triumph nach nur einem Durchgang natürlich voll aus dem Häuschen und die Gelassenheit, die wir als Deutsche und Severin Freund-Unterstützer noch hierhergebracht hatten, war quasi nicht mehr vorhanden. Vorher hatten wir uns weder mit irgendwelchen Szenarien oder Rechenspielchen auseinandergesetzt, sondern wir waren uns sicher: der Sevi macht das! Und zwar nicht irgendwie, sondern schon am Freitag klar.
Doch denkste – Peter Prevc bewies einmal mehr seine Hartnäckigkeit und nahm dem Deutschen mit einem Schlag 50 Punkte ab, da waren es nur noch 44 Zähler Vorsprung. Die Gedankenspielereien ließen wir auch schnell sein, denn wir als Zuschauer können nicht mehr machen als Anfeuern und Daumen drücken. Flachsend einigten wir uns mit den Prevc-Fans auf den Kompromiss: große Kugel für den Gesamtweltcup für Freund und kleine Skiflug-Weltcupkugel für Prevc. So bestritten wir auch diesen Abend, wie die letzten beiden: Pizza essen und danach gemütlich im Vopa das ein oder andere Bierchen zu sich nehmen. Die Nacht sollte nicht zu lang werden, schließlich stand ja am Sonntag der große Tag an.
Für unsere Verhältnisse waren wir auch recht zeitig im Bett, doch der Morgen fühlte sich schrecklich an. Der Kopf war müde, die Knochen taten weh und das Wetter war höchst ungemütlich. Es war neblig und nass-kalt; Schneeregen kam den Himmel herunter und ich dachte nur: „na toll, das kann ja nix werden heute“. Wie paralysiert nahmen wir am Vopa den Shuttle-Bus. Es wurde wenig gesprochen. Nur Mike klopfte mir auf die Schulter und sagte zu mir: „hey, heute geht es um das letzte Bier für diese Saison“. Entgegen meiner eigentlichen Art sagte ich zähneknirschend: „das kann ich dir jetzt schon kaufen, Freund holt die Kugel nicht“. Er lachte nur und sagte, das sei doch noch gar nicht entschieden. Und er läge ja immer noch vorne. Ich seufzte bloß und versuchte irgendwie weiter wach zu werden. Immerhin konnte ich mich selbst erheitern und sagte zu Brian: „gut, dass wir nicht als Deutsche erkenntlich sind. Wir können uns im Stillen freuen, wenn es klappt und wenn Pero [Prevc, Anm. d. Red.] gewinnt, sind wir eben Normalos“. „Da hast du sogar Recht, na dann auf ins Gefecht“, rief er aus und die Welt sah schon wieder anders aus.
Der Probedurchgang begann wesentlich später als angekündigt. Normal gebe ich auf diesen nicht besonders viel, aber das Warten ging mir allmählich auf den Keks. Für Severin Freund ist der Probedurchgang so wichtig wie für fast keinen anderen Athleten. Obwohl der Wahl-Münchener fast nie der Beste in der Probe ist, hilft ihm dieser Sprung immer wieder dazu, sein System zu finden und optimieren. Um 9:37 Uhr begann dann endlich der Probedurchgang, 37 Minuten später als geplant. Gelächter brach aus, als feststand, dass heute tatsächlich ein einziger Springer würde ausscheiden müssen. Sofort wurden publikumsintern Wetten abgeschlossen, Brian und ich waren nach dem Gastspiel im Vopa sicher, dass es den Finnen Lauri Asikainen treffen würde… Letztendlich wurde es ja dann unglücklicherweise Stephan Leyhe vom SC Willingen. Das war aber nur halb so tragisch, da a) es ohnehin ein großer Erfolg war, dass er überhaupt so weit vorne im Gesamtweltcup lag und b) die Deutschen ja trotzdem den Nationen-Cup einheimsten – das große Ziel von Bundestrainer Werner Schuster. Mit Ausnahme von Michael Neumayer, der im zweiten Durchgang noch einiges gutmachen konnte, war die Performance der DSV-Springer abermals kein Grund zur Freude. Aber das war ja ohnehin nur ein Nebenschauplatz. Alles drehte sich um das Duell Freund versus Prevc.
Nach der Probe war ich wieder um einiges positiver gestimmt. Der sechste Platz bestätigte zwar, dass Freund hier nicht bei 100 Prozent war und es wäre auch im Vergleich zum Freitag ein weiterer Schritt nach hinten gewesen, jedoch: Prevc war weder Alleinherrscher ganz vorne, so wie am Freitag, noch Erster, sondern Zweiter. Somit wäre ein sechster Platz bei diesem Endergebnis ausreichend für die Kugel gewesen. Wir standen ganz vorne im FIS-Family-Bereich, direkt an der Mixed-Zone und dem Container der Materialkontrolle. Somit hatten wir also beste Sicht auf die Geschehnisse bei den TV-Stationen und bei den Springern. Drei große TV-Scheinwerfer störten die Sicht auf die Schanze, doch das war mir egal. Es gab immer noch die Video-Leinwand und Stadionsprecher Bojan Makovec. Nach der Probe beobachtete ich intensiv das Verhalten von Freund und Prevc. Der Slowene wirkte wesentlich lockerer als noch am letzten Nachmittag, als er nervös vor seinem Laptop hockte und im Web surfte. Er ist ja ohnehin nicht der allergrößte Kommunikator, aber, dass er mit fast gar keinem sprach, ist auch für ihn nicht normal. Und Freund? Der verzog nach seinem Flug keine Miene, setzte sich seelenruhig auf die Bank und packte seine sieben Sachen. Ich habe selten einen Menschen gesehen, der so fokussiert beim Tasche packen wirkte.
„Wenn sich der Stand doch noch umdrehen sollte, dann lag es am allerwenigsten an ihm. Der will – und zwar richtig“, sagte ich mir insgeheim und atmete tief durch. Die Anspannung stieg von Minute zu Minute. Da kam das Entertainment-Programm im Stadion gerade recht. Einfach nur um auf andere Gedanken zu kommen, machten wir mit. Wir brüllten die Nachnamen der slowenischen Teilnehmer auf Zuruf mit, sangen die Planica-Hymne und machten bei der Stadion-La-ola mit. Irgendwann war uns dann auch das Wetter egal, selbst wenn es für Verzögerungen sorgte. Brian sagte mit einer gehörigen Portion Galgenhumor: „heute brauchen wir uns wenigstens keine Sorgen zu machen, dass die Spur bricht“. Dieser Umstand sorgte ja am Donnerstag dafür, dass die Qualifikation auf den Nachmittag verschoben wurde. Um kurz nach zehn begann der Wettkampf schließlich. Die Verhältnisse waren nach dem Wettkampf am Freitag ein wenig zurechtgerückt worden, deshalb war klar, dass es nun eine Zeit lang dauern würde, bis die ersten Kracher kamen. Manuel Fettner legte mit Startnummer 9 den ersten aufsehenerregenden Satz mit 218,5 Metern hin. Im fast schon gewohnten Fettner-Style ging bei ihm die Bindung des linken Skis auf, doch er fuhr souverän aus. „Ich glaub, der kriegt das in seinem Leben nicht mehr geregelt, dass die Bindung mal hält“, lachte Brian kopfschüttelnd.
Danach kam dann Gregor Schlierenzauer und knackte als Erster den Hillsize. Mit seinen 228,5 Metern könnte er auch für die Weltcup-Entscheidung ein Zünglein an der Waage sein, das war bereits jetzt klar. Kamil Stoch setzte sogar noch deutlich einen drauf und flog starke 235 Meter, der war definitiv ein Kandidat fürs Podest oder sogar für den Tagessieg. Für die bis zu diesem Zeitpunkt doch etwas enttäuschenden Slowenen sorgte dann Robert Kranjec endlich für Erheiterung, indem er 214,5 Meter flog und sich knapp hinter Fettner platzierte. Insgesamt war es aber so, dass das Feld sehr eng beieinander war. Da fiel es schon auf, wenn mal einer ein paar Meter über Hillsize segelte. So wie Rune Velta, der dann den Reigen der Besten eröffnete. Er flog 230,5 Meter und war seit Langem der erste, der sich vorne einrangierte. Stefan Kraft nach ihm flog einen Meter kürzer, wirkte aber nicht so überragend wie noch am Freitag, als es für Platz drei reichte. Anders Fannemel hatten wir aus unseren Überlegungen aufgrund seiner Knieprobleme ausgeklammert, doch er schlug sich mit 226 Metern und einem Telemark sehr gut.
Doch dann brodelte wieder der slowenische Hexenkessel: Jurij kam! Der Kerl, der mit Ausnahme des zweiten Trainingssprunges bei brechender Anlaufspur noch gar keinen Flug unter 220 hier fabriziert hatte. Und wie es sich für einen Jurij Tepeš gehörte, bolzte er sich am Tisch voll vorne raus und machte Geschwindigkeit. Er wolle am Sonntag gewinnen, das hatte er nach dem Wettkampf am Freitag gesagt. Und er tat sein Bestes: auch er flog 230,5 Meter und bekam drei Mal die Note 20! Aufgrund besserer Verhältnisse blieb er jedoch hinter Rune Velta und wirkte nicht vollends zufrieden. Noriaki Kasai, der Flieger auf Sparflamme, kam nach ihm und sorgte wie so oft dafür, dass Leute ihre realen oder zumindest imaginären Hüte zogen. Mit 42 Jahren noch regelmäßig über 220 Meter zu fliegen, ist schlichtweg irreal. Es war zwar klar, dass er bei 223,5 Metern keine Chancen aufs Podest haben würde, aber der Mann ist einfach eine eigene Kategorie.
Dann war das Vorspiel vorbei, es wurde ernst. Und es wurde ohrenbetäubend laut. Die Abteilung Attacke, namentlich Peter Prevc nahm auf dem Balken Platz. Es war klar: er muss und zwar jetzt. Will er noch eine Chance auf den Gesamtweltcup haben, muss er nun in Führung gehen. Der Wind spielte an diesem Tag im Prinzip keine Rolle, sodass schnell grün gegeben wurde. Prevc fuhr los, zig Tausende Kehlen waren vorgewärmt und bereit, ihren Helden ins Tal zu brüllen. Der akustische Teppich war bereitet und der Slowene stieg vom Schanzentisch weg. „Der geht wieder“, schoss es mir durch den Kopf. 238,5 Meter war er im zweiten Training geflogen, am Freitag sogar 248,5 Meter – neuen Schanzenrekord. Und jetzt? Den Hillsize überflog er mit schierer Leichtigkeit und landete wieder in Nähe der 240 Meter. Das Stadion explodierte, alle wussten: das war die Ansage, die er gebraucht hatte. Auch der Slowene wusste, wie wichtig dieser Flug war und ballte beide Fäuste – allerdings, ohne überschwängliche Freude. Natürlich wusste er, er würde nicht so weit weg sein, wie am Freitag. Ganze 3,9 Punkte trennten ihn von Kamil Stoch – beim Skifliegen ein Wimpernschlag. „Der ist mal in die Vollen gegangen, jetzt hat Sevi gar keine andere Wahl als zu attackieren“, sagte ich zu Brian. Der nickte nur, wohl wissend, dass das eine ganz enge Kiste werden würde. Der Jubel war noch nicht mal annähernd verstummt, da fuhr der Deutsche schon los. Meine Daumen waren jetzt schon blau vom Drücken und jetzt konnte ich gar nicht mehr anders als ihn die Schanze herunterzubrüllen. Oben sah der Flug – wie alle an diesem Wochenende – nicht verkehrt aus und er versuchte wirklich jeden Meter raus zu quetschen. Doch es ging irgendwann nicht mehr weiter, er landete noch vor der Hillsize-Markierung. Kurze Stille im Publikum, dann wieder aufbrausender Jubel. Alle waren sich sicher, dass dies die halbe Miete sei. Und Freund? Haderte schon während der Ausfahrt. Er wusste, das würde so nicht reichen.
Ein müdes und gequältes Lächeln in die Kamera, kurzes Winken und dann schnell-von-dannen-trotten waren seine Reaktionen auf den siebten Platz. Allen Beteiligten war klar: so reicht es für Freund nicht. Ich schlug meine Faust in die offene Handfläche und haderte mit den Ereignissen. Während Prevc sich mit dem Betreuerstab abklatschte, fiel Freund auf die Bank, wie ein Läufer nach einem Marathon. Er zog die Mütze tief ins Gesicht und vergrub dieses in seinen Händen. Der Physio des DSV half ihm beim Umziehen und versuchte ihm gut zuzureden. Brian und ich waren uns indes gar nicht so sicher, bei welcher Konstellation nun wer Gesamtweltcupsieger werden würde. Wir hatten uns die Rechnung vorher einfach gemacht und gesagt, dass bei einem Sieg von Prevc Freund auf dem Podest stehen müsse. Mit Platz drei hätte der Deutsche die Kugel um vier Punkte gesichert. Doch nun, Platz sieben….was musste passieren, damit die virtuelle gelbe Jacke, wie wir das Trikot salopp nennen, wieder von Slowenien nach Deutschland wandern würde? Es war zum Haare raufen, wir fassten keinen klaren Gedanken mehr.
Der Vorteil war nun: es war fast ausgeschlossen, dass es vor Freund zu irgendeiner Verkürzung des Anlaufs kam, da alle Überflieger erst nach ihm dran sein würden. Zu Beginn des zweiten Durchgangs erfreuten wir uns am doch respektablen Abschied der Deutschen in die skisprungfreie Zeit. Angesichts der nicht überragenden Leistungen der Norweger, war es zumindest halb abgemachte Sache, dass Deutschland den Nationen Cup holen würde. Ein nicht mal kleines Trostpflaster, wenn nun wirklich alles in die Binsen gehen sollte. Richard Freitag und Markus Eisenbichler kamen unmittelbar hintereinander und flogen 205, respektive 206,5 Meter und holten noch ein paar Plätze in den Top 25 auf. Michael Neumayer, als Oldie des Teams immer noch fünftbester Skispringer in Deutschland, segelte sogar auf 210,5 Meter und ballte die mittlerweile bekannte Neumayer-Faust. Für ihn reichte es sogar noch für Platz 19 in diesem Wettkampf. Viele Beobachter fragen sich und ihn ja immer häufiger: wann hörst du denn auf? Ich persönlich halte es da mit dem Kollegen Dirk Thiele von Eurosport und sage: warum sollte der Micha denn aufhören, wenn er immer noch zur Nationalmannschaft gehört?
Der zweite Zehner-Block fand gänzlich ohne deutsche Beteiligung statt, dafür waren zweimal 180 Dezibel vorprogrammiert: Jernej Damjan und Robert Kranjec hießen die beiden slowenischen Starter. Damjan, nicht wirklich als Flieger bekannt, fiel in der Endabrechnung auch gleich mal um drei Plätze zurück und landete knapp vor Neumayer. Und Kranjec? Der hatte an diesem Tag scheinbar einen imaginären Magneten eingebaut, denn er flog zum dritten Mal in drei Durchgängen 214,5 Meter. Doch das reichte sowohl für die Planica-Hymne, als auch für das Halten seiner Platzierung und damit für ein überdurchschnittliches Resultat in dieser Saison. Das war den allermeisten im Stadion gar nicht so sehr bewusst, die Freude war dafür umso überschwänglicher. Feiern können die Slowenen nun mal richtig gut, aber sie erkennen auch die Leistungen anderer Landsleute zweifelsohne an. Das merkt man am allermeisten bei Noriaki Kasai, den wohl ein jeder Skisprung-Zuschauer sympathisch findet. Seine 229 Meter wurden bejubelt, als wären sie gerade von einem Slowenen geflogen worden.
Kasai eröffnete also die Abschlussvorstellung der letzten Zehn. Danach kam Michael Hayböck und flog, wie er das ganze Wochenende flog: bärenstark. 232 Meter bedeuteten bis dahin die beste Weite des Durchgangs. Den deutschen Fans um uns herum, wie auch Brian und mir rutschte derselbe Satz heraus: „muss der denn jetzt auch noch um die Ecke kommen? Es ist schon so eine verdammt harte Nuss“. Da war es schon fast eine Erleichterung, dass der dann folgende Anders Fannemel der langen Saison Tribut zollen musste und „nur“ 214 Meter flog. Der würde Severin Freund nun nicht mehr gefährlich werden, das war klar. Genauso klar war, dass fortan jeder gutgemachte Platz für den Deutschen Gold, oder besser gesagt, Silber wert sein würde.
Nun also Severin Freund. Vom Stadionsprecher fast schon euphorisch angekündigt, nimmt er oben auf dem Balken Platz. Aus Sicht der 30.000 Zuschauer und der allermeisten Beteiligten ist es ein Ding der Unmöglichkeit, das er nun in Angriff nimmt. Ein letzter Flug, um die Kugel doch noch irgendwie nach Hause zu retten. Er atmet tief durch bevor er losfährt. Ich atme ebenfalls tief durch, haue mir auf die Brust. Am gesamten Morgen hatte ich noch keine derart klaren Gedanken wie nun. Ich wusste genau, um was es jetzt für ihn geht. Und irgendwie lebe ich mit ihm mit. Ich mache Sachen, die ich sonst nie mache. Auch wenn ich weiß, dass es ihm nichts bringt. Er fährt los. Von 0 auf über 100 in gut sieben Sekunden und dann noch diese schmale Schanzentischkante in Sekundenbruchteilen treffen. Noch einmal sich voll vorne raushauen, lang machen, jeden Meter rausholen, der geht und dann hoffen dass es reicht. Wieder ist Freund blitzschnell in seinem System und auch hoch dran. „Der ist besser als der Erste“, schießt es mir durch den Kopf. Ist er auch, aber nur geringfügig. Er landet knapp über Hillsize, die Reaktion ist dieselbe wie nach dem ersten Sprung. Wieder tiefes Durchatmen. 226 Meter und vier Mal die Note 20 leuchten auf der Tafel. Die geringfügige Freude wurde eher durch zweiten Umstand verursacht. Und dann kam der Balken. „Geh wenigstens auf die verdammte eins“, dachte ich mir, der Verzweiflung nahe. Doch er tat es nicht. Er blieb bei der 2 kleben. „Um 0,2 Punkte…“, brachte Brian fassungslos heraus.
War es das nun? Entreißen diese 0,2 Punkte dem Deutschen die schon fast sichere Kristallkugel? Sind am Ende vielleicht 100 Gramm Schuld daran, dass der große Triumph ausbleibt? Sind 9 Saisonsiege exklusive der WM tatsächlich nicht genug? Das waren die Fragen, die uns nun beschäftigten. Wieder ging Freund zähneknirschend zur Bank. Diesmal pfefferte er seine Sachen eher weg, für ihn brach eine Welt zusammen. Stefan Kraft würde ihn überholen, das war schon fast vorweg klar. „Wenn er doch wenigstens noch einen packen würde“, meinten die Deutschen hinter uns zitternd. Kraft tat ihm den Gefallen nicht und segelte auf 229,5 Meter. Freund nur noch auf drei. Wieder stand der Physio bei ihm, immer mehr Leute gesellten sich zu ihm. Dann kam Gregor Schlierenzauer. Angesichts der Klasse, die noch kommen sollte und der Punktabstände, musste es aus Freunds Sicht nun er sein, der patzt. Doch an diesem Wochenende haben wir fast den alten Schlierenzauer gesehen, weshalb ich auch da die Felle davonschwimmen sah. Doch ganz optimal war sein Flug nicht, er blieb bei 218 Metern hängen. „Den hat er zumindest“, ballte sich bei allen Deutschen eine kleine Faust.
Doch reicht das? Das war gleich die nächste Frage. Bei der aktuellen Konstellation sicherlich nicht, denn Freund hatte gerade einmal seine Position sieben gehalten. Ich war nun gar nicht mehr Herr meiner Rechenkünste und musste mir wirklich helfen lassen. Und als nächstes kam da ja noch der eine Verrückte. Und der war aus seiner Sicht „nur“ Vierter nach dem ersten Sprung: Jurij Tepeš. Brian sagte zu mir: „pass auf, der hat jetzt `ne Fackel [umgangssprachlich für starken Aufwind, Anm. d. Red.] und fliegt deutlich weiter als alle anderen heute“. „Auf dein Wort, mögest du Recht haben“, antwortete ich und schaute nach oben. Die Windfähnchen an der Seite des Hangs waren in der Tat etwas stärker in Bewegung als die meiste Zeit zuvor. Und dann kam auch schon der Vorname Tepeš‘ durch die Lautsprecher gebrüllt. Als die Ampel auf Grün schaltete, brüllte das ganze Publikum inklusive mir: „Teeepeeeššš!!!“ zurück. Und der Bursche kam. Und zwar wie. Höher als alle anderen an diesem Tag, es schien in diesen Sekunden als ob der Flug nie enden wollte. Den Hillsize ließ er unter sich als wäre es nix und dann knallte er bei weit über 240 Meter einen Telemark vom Feinsten auf den Hang. Das Stadion explodierte nun endgültig, der Lärmpegel war so hoch wie nie zuvor an diesem Wochenende und überall lagen sich jubelnde Leute in den Armen. Ich sagte erst nur „wow“, aber dann ballte ich auch meine Faust, weil es a) ein Weltklasse-Flug war und b) sich in diesem Moment bei mir die Gewissheit klarmachte, dass Jurij Tepeš heute der Einzige sein würde, der seinem Teamkollegen Prevc in die Suppe spucken könnte. Als dann auch noch fünf Mal die Traumnote 20 aufleuchtete, gab es überhaupt kein Halten mehr. Angesichts dieses Fabelflugs und des sicher geglaubten Siegs von Peter Prevc steppte bereits jetzt der Bär, der sich in der Pause an sich erst für nach dem Wettkampf angekündigt hatte.
Doch noch war das Spektakel ja noch nicht vorbei: mit Rune Velta, Kamil Stoch und Peter Prevc standen ja schließlich noch drei Männer oben. Und auch jeder von ihnen konnte in irgendeiner Art und Weise noch den Gesamtweltcup mitentscheiden. Velta hatte seine Zeit lang gebraucht, um sich mit der Schanze anzufreunden. An seinen fliegerischen Qualitäten lag dies logischerweise nicht. Doch mit 226,5 Metern ging auch hier der Knopf nicht endgültig auf, weniger noch: er erzielte dieselbe Punktzahl wie Severin Freund. Doch das war natürlich genug um vor dem Deutschen zu bleiben. „Schade, der wäre noch wichtig und gut gewesen“, sagte der Fan aus Rosenheim, der neben mir stand. Recht hatte er, aber das war unvermeidlich. Nun also nur noch Stoch und Prevc, Tepeš war immer noch meilenweit vorne und nun schon schlechtestenfalls Dritter. „Wenn ich mich nicht komplett irre, dann muss nur einer von Jurij und Kamil Peter überholen, damit es für Sevi reicht“, steckte mir Brian. „Ja? Wenn du das sagst…also ich verlass mich heute nur auf den Computer, bevor ich hier irgendeine falsche Gefühlsregung zeige“, antwortete ich. Auf Kamil Stoch konnte sich Severin Freund jedenfalls nicht verlassen. Der Pole brachte seinen Sprung nicht durch und flog somit auf 222,5 Meter, kürzer als der Deutsche. 2,6 Punkte hatte er von seinem Vorsprung auf Freund noch übrig – beim Skifliegen, wie gesagt, fast nichts: knappe zwei Meter. Auch das war wieder zum Haare raufen. Jetzt stieg die Spannung ins Unermessliche. So, wie Prevc am Samstag sich im Hotel gab, war er nicht der coole Hund, für den ihn so viele halten und den er auch gerne auf der Schanze gibt. Bei der „to-beat-Weite“, die aufleuchtete, ergaben sich bei mir gemischte Gefühle. 240 Meter ist der Mann hier schon geflogen – und zwar scheinbar sehr locker. Aber jetzt? Das ist schon ein Pfund zum Essen, was ihm sein Teamkollege Jurij Tepeš nun aufs Brot geschmiert hatte. Würde er es am Ende sein, der Prevc die Suppe doch noch versalzt? Ein Orkan von Schreien fegte nun durch das Weite rund, alle brüllten sie Prevc‘ Namen. Und alle wollten sie ihn siegen sehen. Ein letztes Mal ertönte das Jingle aus den Boxen, das immer kommt, wenn sich ein Springer auf den Weg nach unten macht.
Ich wendete meinen Blick ab von der Schanze, schaute nur auf Severin Freund. Der stand nun mittlerweile unter einem Regenschirm am Rande der Mixed-Zone. Den Rucksack auf dem Rücken, Richard Freitag neben ihm. Noch hatte er das gelbe Trikot an. Der Lärm brandete auf, Prevc war nun in der Luft. „Leti, leti, leti, gooooo“, hallte es aus Tausenden von Kehlen. Und Prevc flog – über den Hillsize, über 230 Meter, aber dann war der Flug vorbei. Er landete, nickte mit dem Kopf und fuhr aus. Freund senkte den Kopf und wog ihn hin und her. Die Slowenen jubelten. Eins war klar: es gab einen slowenischen Tagessieg. Doch wer hatte denn nun die große Kugel gewonnen? Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich irgendwas auf der Anzeigetafel tat. Prevc‘ Flug wurde in Endlosschleife dort eingespielt. Dann kam die Weite: 233,5 Meter! Das kann für den Tagessieg nicht reichen, egal wie die Noten nun sein würden, das war klar. Dann kam der Balken und blieb bei der zwei hängen. Das Stadion jubelte, überall wehten slowenische Fahnen und überall wurden Fäuste geballt und zu Slibowitz und Bier gegriffen. Doch was war nun mit der Kugel?? Jurij Tepeš wusste es offenbar sofort. Anerkennend, leicht entschuldigend blickte er Peter Prevc ins Gesicht und gab ihm die Hand. Auf einmal sprangen gelbe Jacken umher und alle stürzten sich auf Severin Freund. „Wie jetzt? Hat er doch gewonnen?“, fragte ich Brian ungläubig. Keiner wusste so richtig, was Sache ist. Hatten wir uns etwa verrechnet? Ich sah Prevc trotz des zweiten Platz immer noch 10 Punkte vorne. „Das kann doch nicht sein….die hüpfen hier durch die Gegend, da müssen die sich schon verdammt sicher sein“, sagte ich. Ich blickte ratlos durch die Gegend. Doch überall lagen sich die Deutschen jubelnd in den Armen. Und so wurde aus meiner Ratlosigkeit doch ein breites Grinsen. „ER hat gewonnen“, sagte ich. „ER. HAT. GEWONNEN“, brüllte ich aus heiserer Kehle und alles entlud sich. Ich ballte beide Fäuste und dann kam Severin Freund auch noch an uns vorbei. Mit einem Handy am Ohr schloss er sich in den Container der Materialkontrolle ein und es dauerte fünf Minuten, bis er wieder rauskam. Hastig zwängte man ihm das Leibchen des Gesamtweltcupsiegers über den Körper.
Dann folgte die Siegerehrung. Es begann mit der Tageswertung, die niemand anderes als Jurij Tepeš heimholte. Es war dasselbe Ergebnis wie beim letzten Fliegen auf der alten Letalnica: Tepeš vor Prevc und Velta. Im ganzen Lärm nach der Nationalhymne Sloweniens ging nun völlig unter, welche Ehrung als nächste folgen sollte. Doch da half glücklicherweise die Anzeigetafel – zumindest denjenigen, die sie im Blick hatten. Denn auf einmal sprangen wieder freudetrunken die Slowenen durch die Gegend. Nicht wissend, dass es um die Skiflug-Wertung ging. Diese hatte Peter Prevc um hauchdünne elf Punkte vor Severin Freund gewonnen. Dritter in dieser Wertung wurde – na klar - Jurij Tepeš. Auch die Rosenheimer wussten nun gar nicht mehr was Sache ist. „Wie? Hat der Prevc jetztad doch das Ding g‘wonnen?“, fragte einer verdutzt. „Die Skiflug-Wertung schon, den Gesamtweltcup aber scheinbar nicht“, half ich ihm auf die Sprünge. „Aha, i blick do gar nix mehr“, sagte er nur kopfschüttelnd. „Warten wir es ab, wir werden es gleich wissen“, zwinkerte ich ihm zu. Und just in diesem Moment leuchtete das Tableau auf. Severin Freund stand ganz oben mit 1729 Punkten, Peter Prevc darunter….mit dergleichen Punktzahl! Und auch bei ihm stand eine Eins vor dem Namen. In meinem Kopf arbeitete es unaufhörlich. „Dann entscheidet die Zahl der Siege, oder?“, fragte ich Brian. „Wenn ich keine Regeländerung verpasst habe, schon“, lachte er ungläubig. „Boah, hier kriegst du echt einen zu viel“, lachte er laut auf. „Ich habe dir nicht zu viel versprochen, bevor wir hier hergefahren sind“, haute ich ihm auf die Schulter und klatschte in die Hände. So war es: Freund hatte punktgleich, aber mit mehr Einzelsiegen den Gesamtweltcup gewonnen.
So etwas hat es in der Geschichte des Skispringens noch nie gegeben. Im ersten Moment fühlte es sich nicht wirklich wie ein Sieg an, es war einfach nervenaufreibend. Doch der Slowene Prevc gratulierte fair und sah wie alle anderen ein: Freund hatte neun Tagessiege geholt und war damit DER Überflieger in dieser Saison gewesen. Es wäre ein kosmischer Witz, mehr noch: eine kosmische Ungerechtigkeit gewesen, hätte das nicht gereicht. Jurij Tepeš hatte seinem Teamkollegen tatsächlich die Kugel aus der Hand gerissen und sie Freund gegeben. Doch, wer so wie Jurij, in einem solchen Flugrausch ist, zieht nicht zurück. Unter dem Strich hat sicher der Bessere und auch Glücklichere die große Kugel gewonnen. Prevc hatte seinerseits an diesem Tag die Chance zu gewinnen und hat sie nicht genutzt. Somit sagten sich die Deutschen: „Glück g’hört halt auch dazua, aber des ward dem Tüchtigen heuer hold“.
Die große Party unsererseits fiel aufgrund von Erschöpfung und Erkältung aus. Nach einem kurzen Mittagsschlaf spendierte mir Mike wie versprochen das Bier. Sein Fazit: „wir haben zwar keinen Weltrekord gesehen, aber es war Planica und es wieder genial. Und wer hätte dieses Ende vorhergesehen?“ „Da hast du vollkommen Recht“, entgegnete ich ihm Schulter klopfend. „In diesem Sinne: danke für das Bier, für die anderen verlorenen Wetten und ein Hoch auf unseren Gesamtweltcupsieger, Severin Freund“. Er lachte. Somit waren alle am Ende des Tages doch irgendwie happy und ein neuerlich großartiges Planica-Wochenende ging zu Ende. Es war wieder ein großes Fest und ein großartiger Saisonabschluss. Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, dort einmal hinzureisen. Ich werde mein Möglichstes trotz Bachelor-Arbeit 2016 wieder tun!
Schanzen:
Planica (Letalnica)Werbung:
Kommentare:
http://shrani.si/f/2V/C5/2ebuQmOY/1/planica-nv.jpg
plans and vision of Janez Gorišek how the totally new flying hill (300 m+) with new axis and direction will be positioned in far future.
270 meters confusion
Hello! I see a lot of confusion with that statement of ski jumping fans across the Europe.
It was never claimed that 270 meters will be possible this year but only when FIS will allow more than 135 meters height difference in the future. Maybe in next 10-20 years.
Gorišek was really talking about 270 meters. But what he meant was that hill is built in that way that for low cost reconstruction in the future (simply cut of a couple of meters of the take-off table) it will be easy modernized up to max. 270 m
For more than that we Will have to build totally new flying hill with differen axis and direction.
I hope you understand it.
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